Zusammenfassung und Ausblick der Studie
Eine störungsbedingte Systemauftrennung des Verbundsystems stellt eine Herausforderung für die Wahrung der Frequenzstabilität im kontinentaleuropäischen Verbundsystem dar, da durch die Auftrennung die vorherigen Transite über das Drehstromnetz in Form von Leistungsungleichgewichten in den getrennten Teilnetzen auftreten. Mittels geeigneter Szenarien konnte aufgezeigt werden, dass zukünftig potentiell mit sehr hohen Leistungsungleichgewichten zu rechnen ist, welche in Kombination mit einer reduzierten Schwungmasse zu deutlich höheren und kritischen Frequenzgradienten führen werden. Da auch solche, über den Auslegungsfall hinausgehende, aber dennoch mögliche Störungen nicht zu einem Systemzusammenbruch führen dürfen, wurde sowohl für den Überfrequenz- als auch für den Unterfrequenzbereich das heutige Verhalten sowie notwendige Gegenmaßnahmen analysiert.
Zur Beherrschung von über den Auslegungsfall hinausgehenden Störungen im Überfrequenzbereich dient die Überfrequenz-Leistungsreduktion (ÜF-LR) der Erzeugungseinheiten. Da die hohen Transite in Deutschland in Nord-Süd-Richtung insbesondere durch die hohe Einspeisung aus Windkraftanlagen hervorgerufen werden, stand dabei die ÜF-LR von Windkraftanlagen im Fokus. Die abregelbare Leistung der ÜF-LR muss einerseits ausreichen, um das Leistungsungleichgewicht absolut ausgleichen zu können. Andererseits muss die Abregelung ausreichend schnell erfolgen, damit die Frequenz innerhalb des zulässigen Frequenzbandes gehalten werden kann. Es wurde gezeigt, dass die Performance der heute bei Windkraftanlagen eingesetzte ÜF-LR nicht ausreicht, um die Frequenzstabilität für die betrachteten Szenarien aufrecht zu erhalten. Dabei spielen einerseits Verzögerungen für Messung und Kommunikation von bis zu einer Sekunde und andererseits das Zeitverhalten der ÜF-LR eine wesentliche Rolle. Es wurde aufgezeigt, dass Szenarien mit einem Leistungsungleichgewicht von bis zu 30 % bezogen auf die Netzlast und Frequenzgradienten von bis zu 2 Hz/s beherrscht werden könnten, sofern diese Verzögerungen auf 100 ms begrenzt werden könnten und dieser Frequenzgradient von der Umrichterregelung beherrscht wird. Um Szenarien mit höheren Leistungsungleichgewichten und Frequenzgradienten beherrschen zu können, müsste zusätzlich das Zeitverhalten der ÜF-LR deutlich schneller erfolgen. Die Geschwindigkeit der Leistungsreduktion ist bei dem heute typischerweise für die ÜF-LR eingesetzten Konzept der Pitch-Regelung begrenzt, um die Anlage vor mechanischen Belastungen zu schützen. Ohne Erweiterung bestehender Konzepte wird eine Optimierung des Zeitverhaltens daher voraussichtlich an seine Grenzen stoßen.
Daher wurde auch der Beitrag von Bremswiderständen zur Optimierung des Zeitverhaltens der ÜF-LR geprüft. Es konnte gezeigt werden, dass hierin ein Potential besteht, das Zeitverhalten deutlich zu optimieren, allerdings müsste ein Großteil der Anlagen einen Beitrag zur Optimierung des Zeitverhaltens mit Bremswiderständen oder vergleichbaren Konzepten vorsehen, was aber bislang nicht dem Stand der Technik entspricht. Zudem wurde der Beitrag künstlicher Schwungmasse bei Überfrequenz analysiert. Auch hier konnte gezeigt werden, dass damit das Frequenzverhalten positiv beeinflusst werden kann.
Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass in den technischen Anschlussregeln künftig für alle Erzeugungseinheiten konkrete Vorgaben zum Zeitverhalten der ÜF-LR definiert werden sollten. Allerdings sollte aus den beschriebenen Gründen die Vermeidung einer Netztrennung der synchronen Erzeugung im Vordergrund stehen. Daher wird im Wesentlichen die nicht-synchrone Erzeugung durch ein ausreichendes Zeitverhalten der ÜF LR zur Sicherstellung der Frequenzstabilität beitragen müssen.
Zur Beherrschung von über den Auslegungsfall hinausgehenden Störungen im Unterfrequenzbereich dient der Unterfrequenz-Lastabwurf (UF-LA). Die abschaltbare Last des UF-LA muss einerseits ausreichen, um das Leistungsungleichgewicht absolut ausgleichen zu können und andererseits muss die Abschaltung der Last ausreichend schnell erfolgen, damit es zu keiner ungewollten Überreaktion kommt. Es wurde gezeigt, dass mit dem heutigen Lastabwurf in 10 Stufen und einer Verzögerung von 150 ms Szenarien mit einem Leistungsungleichgewicht von bis zu 20 % bezogen auf die Netzlast und Frequenzgradienten von bis zu 2 Hz/s beherrscht werden können. Um Szenarien mit höheren Leistungsungleichgewichten und Frequenzgradienten beherrschen zu können, müsste die Verzögerung reduziert werden oder das heutige Konzept des Lastabwurfs um weitere Funktionalitäten ergänzt werden. Daher wurde der UF-LA um eine Δf/Δt-Funktionalität erweitert. (Die realen Verzögerung des frequenzabhängigen Lastabwurfs können auch bei etwa 200 ms liegen. Dann wird eine Δf/Δt-Funktionalität bereits bei Frequenzgradienten ab etwa 1 Hz/s erforderlich.)
Unter den angenommenen Randbedingungen konnte gezeigt werden, dass Szenarien mit einem Leistungsungleichgewicht von bis zu 40 % bezogen auf die Netzlast und Frequenzgradienten von bis zu 4 Hz/s beherrscht werden könnten. Eine weitere Problematik des UF-LR ist, dass die Frequenz unter gewissen Randbedingungen trotz konzeptgemäßer Funktion des UF-LA bei Frequenzen unterhalb von 49 Hz „hängen bleiben“ kann. Mit einer weiteren Ergänzung des UF-LA um einen verzögerten Lastabwurf, sofern die Frequenz unterhalb von 49 Hz liegt, konnte ein möglicher Lösungsansatz für diese Problematik aufgezeigt werden.
Die vorliegenden Untersuchungen zeigen notwendige Maßnahmen auf, um hohe Leistungsungleichgewichte in Kombination mit einer geringen Schwungmasse infolge von Netzauftrennungen bei Über- und Unterfrequenz zu beherrschen. Allerdings beruhen die Untersuchungen auf einem summarischen Netzmodell und sind daher auf das Leistungs-Frequenz-Verhalten begrenzt. Weitere Aspekte müssen daher untersucht werden, damit sich infolge von Netzauftrennungen gebildete Teilnetze stabil abfangen können. Die folgenden Aspekte sollten daher Gegenstand weiterführender Untersuchungen sein. Umrichterbasierte Erzeugungseinheiten nutzen heute typischerweise stromeinprägende Verfahren und bedingen beispielsweise eine PLL (Phased Locked Loop) oder ähnliche Verfahren, um die Umrichterregelung mit der Netzspannung zu synchronisieren. Diese Verfahren benötigen eine ausreichende Kurzschlussleistung bzw. einen ausreichenden Anteil spannungseinprägender Betriebsmittel, um eine robuste Funktion und damit eine stabile Einspeisung gewährleisten zu können. Bildet sich infolge einer Netzauftrennung ein Teilnetz mit sehr geringem Anteil an Synchronmaschinen (mit oder ohne hohem Anteil umrichterbasierter Erzeugung), stellt ein stabiler Betrieb eines solchen abgetrennten Teilnetzes die Voraussetzung dar, damit sich dieses infolge einer Netzauftrennung sicher abfangen kann. Daher muss analysiert werden, wo die Grenzen der heute eingesetzten stromeinprägenden Regelverfahren liegen und gegebenenfalls ein minimal notwendiger Anteil an spannungseinprägenden Netzelementen abgeleitet werden. Im Hinblick auf die langfristige Entwicklung sollte zudem geprüft werden, welchen Beitrag der Einsatz spannungseinprägender Verfahren bei umrichterbasierten Erzeugungseinheiten und Lasten sowohl für den stabilen Betrieb der Anlagen in schwachen Netzen als auch für die Netzstützung bei dynamischen Vorgängen nach Netzstörungen, insbesondere für die Bereitstellung von Momentanreserve, leisten kann.
Zudem erscheint es grundsätzlich sinnvoll, zukünftig Referenzszenarien für zu beherrschende Netzauftrennungsszenarien für den Über- und Unterfrequenzbereich zu definieren. Auf Basis dieser Refeferenzszenarien können dann Anforderungen an die automatischen Letztmaßnahmen definiert und im Rahmen des Systemschutzplan (im Englischen Defence Plan) überprüft werden. Da Netzauftrennungen typischerweise über Ländergrenzen hinweg auftreten, müssen diese Referenzszenarien auf ENTSO-E Ebene für das gesamte kontinentaleuropäische Verbundsystem abgestimmt werden. Konkret müsste in einem ersten Schritt definiert werden, ab welcher minimalen Größe ein abgetrenntes Teilnetzes sicher abgefangen werden muss. Darauf aufbauend müsste zudem das maximal zu beherrschende Leistungsungleichgewicht und der maximal zu beherrschende mittlere Frequenzgradient definiert werden. Gegebenenfalls ist es sinnvoll, diese Referenzstörung (entsprechend der prognostizierten zu erwartenden Randbedingungen) gestaffelt für verschiedene Zeithorizonte zu definieren, ergo zu verschärfen. Auf Basis der durchgeführten Analysen erscheint es sinnvoll, langfristig Szenarien mit 2 Hz/s und Leistungsungleichgewichten von ≥ 40% (bezogen auf die verbleibende Netzlast) zu beherrschen.